Elisabeth Doderer integriert Digitalität als methodische Dimension in qualitative Interviews, was sowohl die Konzeption als auch die Durchführung, Datenerhebung und Analyse beeinflusst. Dabei lassen sich mehrere zentrale Aspekte hervorheben:
1. Infrastruktur und technische Vermittlung
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Virtuelle Plattformen: Doderer nutzt Tools wie Zoom, Skype oder spezialisierte Aufnahmeplattformen (Cleanfeed, Zencastr), um Interviews auch über räumliche Distanz hinweg durchzuführen. Die technische Stabilität beeinflusst hier direkt die Qualität der Daten und der Interaktion.
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Auratisches Hier und Jetzt: Unter Bezug auf Walter Benjamin zeigt sich, dass die digitale Vermittlung der Situation spezifische „Realitätseffekte“ erzeugt, die narrative und kommunikative Prozesse verändern. Der unmittelbare, physische Effekt der Anwesenheit wird moduliert durch Bild-, Ton- und Interface-Ebenen.
2. Anpassung klassischer Methoden
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Problemzentrierte und semistrukturierte Interviews: Doderer hält an den klassischen Prinzipien der Problemzentrierung fest: offenes Erzählen, Leitfaden-Nutzung als Orientierung, deduktiv-induktive Fragenfolge.
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Narrative Tiefe trotz Digitalität: Technische Distanz kann die emotionale Nähe reduzieren: längere Erzählphasen sind abhängig von Vertrauen, aktiver Gesprächsförderung und situationaler Anpassung. Digitale Kanäle erfordern explizite Gesprächsführung, Rückfragen und ggf. Nachjustierungen des Leitfadens.
3. Erweiterung des methodischen Werkzeugkastens durch digitale Methoden
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Digitale Datenerhebung: Aufnahme in hoher Audioqualität, asynchrone Formate (E-Mail, Chats) und synchrone Videointerviews ermöglichen flexible Datenerhebung.
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Data-Enhancement: Digitale Plattformen erlauben die Anwendung von Text-Mining, Topic Modeling oder Netzwerkanalysen auf Interviewdaten. Dies unterstützt die qualitative Analyse und erlaubt gleichzeitig die Integration größerer Datenmengen.
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Reflexive Methodik: Jede digitale Adaptation wird auf Validität, Verzerrungspotenzial und ethische Konformität geprüft. Dabei bleiben Subjektzentrierung und narrative Erzählperspektiven erhalten.
4. Soziale und ethische Dimension
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Vertrauen und Beziehung: Aufbau eines Interviewbündnisses ist im virtuellen Raum anders zu gestalten; Vertrauen muss expliziter hergestellt werden.
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Datenschutz und ethische Standards: Informierte Einwilligung, sichere Speicherung, Anonymisierung und transparente Kommunikation sind Voraussetzung für digitale Interviews.
5. Praktische Konsequenzen für die Interviewführung
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Flexibilisierung des Feldzugangs: Geografisch entfernte Interviewpartner*innen können leichter integriert werden, Zeit- und Kostenaufwand reduziert sich.
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Aktives Zuhören und Steuerung der Interaktion: Digitalität erfordert bewusste technikgestützte Moderation, klare Gesprächsstrukturierung und Aufmerksamkeit für nonverbale Signale, die über den Bildschirm vermittelt werden.
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Archivierung und Wiederverwendbarkeit: Digitale Formate erleichtern Nachbearbeitung, Transkription und gemeinsame Auswertung über Plattformen hinweg.
Fazit
Die Digitalität verändert nach Doderer vor allem die medientechnische Vermittlung, die Realisierbarkeit langer Erzählungen und die Möglichkeiten der Datenanalyse, ohne die fundamentalen Prinzipien qualitativer Interviewführung zu ersetzen. Klassische Methoden wie problemzentrierte Interviews werden computational-enhanced, d.h. sie behalten ihre narrative und explorative Funktion, werden jedoch methodisch, technisch und ethisch auf digitale Kontexte adaptierbar.
Schlussfolgerung:
Digitalität erweitert den methodischen Handlungsspielraum und schafft neue Chancen für Reichweite, Flexibilität und Datenintegration. Gleichzeitig bleibt die subjektzentrierte Kommunikation das Kernprinzip von Doderers Interviewführung, wobei technologische Vermittlung bewusst reflektiert und gesteuert wird.
Quellen
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Elisabeth Doderer, eigene Publikationen und Website: https://elisabethdoderer.com
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Nicklich et al. (2023), Qualitative Sozialforschung auf Distanz
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Forum Qualitative Sozialforschung: Digitale Verfahren in der qualitativen Forschung
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SpringerLink: Digitale Interviewmethoden und Datensicherung